Impulsreferat zur Abschlussveranstaltung
Wolfgang Oelsner
Sonderschulrektor Städt. Schule für Kranke in den Universitätskliniken in Köln
Guten Morgen meine Damen und Herren!
Wenn doch die Metapher vom „Trommelfeuer“ nicht militärisch vorbelastet wäre! Wie gerne würde ich sie nutzen, um von der soeben erlebten, fantastischen Präsentation der jungen Trommler auf Themen überzuleiten, mit denen ich sie in einem Impulsreferat auf den Abschluss-Morgen einstimmen darf. Denn dieser Kongress in München wird wahrhaft als ein Trommelfeuer in die HOPE-Geschichte eingehen. Nicht nur des tollen Rahmens wegen, jenem Trommelfeuer von Klassik über Volkstümlichkeit bis hin zum Rock. Ein Paukenschlag war auch die Themenvielfalt, wie ich sie in den 22 Jahren, die ich jetzt leitend in Schule für Kranke tätig bin, bei HOPE so noch nicht gehört und erlebt habe. Mit dieser Tagung wurde ein Graben zugeschüttet, der sich latent immer auftat. Es war ein Graben, wie man ihn zuweilen zwischen nahen Verwandten kennt, die zwar alle den gleichen Familiennamen tragen, bei Familienfesten jedoch darum streiten, wer eigentlich der Eltern liebstes und legitimes Kind ist.
Wer darf sich zu den legitimen Familienmitgliedern der Krankenpädagogik rechnen? Lange Zeit spaltete diese Frage. Da standen auf der einen Seite die Kolleginnen und Kollegen, die tradiert auf den somatischen Stationen arbeiten, und auf der anderen Seite die Kolleginnen und Kollegen, die in den neu entstandenen Kinder- und Jugendpsychiatrien arbeiten. Manchmal erschienen sie eher als Stiefverwandte. Seit München 2010 schlägt die Familienchronik neue Seiten auf. Seit München ist die trennende Abgrenzung passé. Wir Krankenpädagogen verstehen uns sämtlichst als pädagogische Fachkräfte für Kinder und Jugendliche mit krankheitsbedingten Lernschwierigkeiten. Lernprobleme, die krankheitsbedingt sind, gehen immer mit Lebensproblemen einher. Dieser Auftrag eint uns als Pädagogenfamilie.
Wie alle Schulen haben auch wir Krankenpädagogen den Auftrag, zu unterrichten und zu erziehen. Wenn Lebensschwierigkeiten im Raum stehen, kann der Erziehungsauftrag aus unserer Arbeit nicht ausgeklammert werden. In beiden Tätigkeitsfeldern, dem psychischen wie dem somatischen, haben wir es mit langfristigen, oft chronifizierten Krankheitsverläufen zu tun. Begriffe wie „Liegezeiten“ und deren Quantifizierung wie „vierwöchig“ oder „sechswöchig“ entstammen einer anderen Zeit und erfassen inhaltlich nicht mehr die anstehenden Aufgaben. Wir haben es zu tun mit hartnäckigen Krankheitsverläufen und wiederholten Krankenhausaufenthalten. Das ist nicht gleichbedeutend mit permanenter stationärer Unterbringung, aber immer mit langen Zeiten, in denen Kinder nicht in ihrer Heimatschule unterrichtet werden können.
Am Eröffnungstag sagte der Kinderonkologe, Herr Professor Burdach: „Wer unterrichtet wird, hat Zukunft.“ Indem wir kranke Kinder, auch lebensbedrohlich erkrankte, unterrichten, wahren sie ihre Optionen auf Zukunft. Wer auf unserem Stundenplan steht, kann weder wert- noch hoffnungslos sein. Dennoch müssen wir neben einer Kultur der Ermutigung auch eine des Abschiednehmens akzeptieren und pflegen. Auch diese Ambivalenz eint uns Krankenpädagogen auf den unterschiedlichen Stationen. Abschiede von Bildungszielen sind auch Abschiede von Lebenskonzepten und wollen von uns begleitet werden. Mal steht die Diagnose „Tumor“ mit irreparablem Funktionsverlust dahinter. Mal erzwingt die Diagnose „Asperger Autismus“ ein Umdenken, etwa wenn ein Kind wegen ADHS in der Kinderpsychiatrie vorgestellt wird und sich während der Behandlung herausstellt, dass das ADHS lediglich Komorbidität einer bis dahin nicht erkannten tiefgreifenden Entwicklungsstörung war. In beiden Fällen verläuft das junge Leben nach der Diagnosestellung in anderen Bahnen. Es gilt Abschied zu nehmen von Planungen, Hoffnungen, Wünschen, Utopien.
Ich will die Impulse meines Referats in jeweils kurzen Thesen komprimieren
These 1:
Die SfK pflegt eine Kultur sowohl der Ermutigung und Zukunftsfindung als auch des Abschiednehmens. Auch die Befähigung zur Trauerarbeit ist immanentes Ziel im Unterricht und bei Schullaufbahnberatungen vor allem chronisch kranker Schüler.
Die Berufserfahrung lehrt uns, dass auch bei optimaler Förderung die Bildungswege nicht immer geradlinig, selten linear verlaufen. Sie sind durchaus auch wellenförmig. Manchmal verharren Kinder auch lange Zeit auf Entwicklungsplateaus, und es bleibt zunächst offen, ob und wie es weitergeht. Das braucht Geduld. Das verlangt auch eine gewisse Demut statt einer Bildungs- und Therapieeuphorie. Wir tun den Kindern, ihren Angehörigen und uns keinen Gefallen, wenn wir die Ziele unser krankenpädagogischen Intervention in den Dienst des gesellschaftlichen Hypes stellen, wonach nur das Abitur zum Glück und zur gesellschaftlichen Teilhabe führen kann. Mit einer relativierenden Haltung werden wir uns nicht immer beliebt machen. Wir sollten sie dennoch sehr offensiv kommunizieren und Gegenwind aushalten.
These 2:
Realitätsprüfung, Krankheitseinsicht und –bewältigung sind immanente Förderziele von Unterricht, Beratung und Diagnostik in einer Klinikschule. Zur Realitätsakzeptanz gehört auch eine Krankheits- und Verlustakzeptanz.
Die beschriebene Haltung bleibt keineswegs auf den Klinikunterricht beschränkt. Wir haben sie in die Kollegien der Regelschulen hineinzutragen. Die Erkenntnis, dass Krankheit und Begrenzung Bestandteile des Lebens sind, ist beileibe kein Monopol der Krankenpädagogik. Sie lässt sich didaktisch aber nicht immer, nicht unmittelbar und nicht hinreichend gut im allgemeinen Schulleben umsetzen. Wenn sich der Umgang mit Begrenzungen vorerst nur im geschützten System der Krankenpädagogik umsetzen lässt, dann steht dies nicht im Widerspruch zum allseits geforderten Inklusionsgedanken. Der Weg zum Ziel braucht auch längere Zeit, als die stationäre Verweildauer sie den Kindern als Zugangberechtigung zur SfK zugesteht.
Was ist die Schule für Kranke?Gestatten Sie mir eine etwas sibyllinisch klingende Formulierung „Die Schule für Kranke ist das, was es ohne sie nicht gäbe“. Dieser Versuch einer recht offenen Definition ist auch eine Referenz an die Medienstadt München. Denn meine Diktion ist die Variation einer Formulierung, die Heribert Prantl in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Münchener Kirchentag 2010 wählte. Auf die Frage: „Was ist Kirche?“ antwortete er: „Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe.“
In einigen Bundesländern (so in meinem Bundesland NRW) hat die Schule für Kranke den Rechtsstatus einer „Schule eigener Art“. Ich erlaube mir, dies in folgender These zu erweitern:
These 3:
„Die Schule für Kranke ist das, was es ohne sie nicht gäbe“. Rechtlich ist sie eine „Schule eigener Art“. Sie ist auch eine Schule einzigartiger, notwendiger Art. Ihr Alleinstellungsmerkmal liegt in der Integration von Maßnahmen.
Krankenpädagogik integriert den medizinisch-therapeutischen Aspekt, der sich aus der Tatsache ergibt, dass das Kind krank ist, und den schulischen Aspekt, der sich aus der Tatsache ergibt, dass es eben ein Kind, bzw. ein Jugendlicher ist. Wir Krankenpädagogen haben dabei - auch das hat München deutlich gezeigt - den Paradigmenwechsel vollzogen, den die Bezeichnung unserer Schulform schon vor Jahren anbahnte, und den ich mit folgender These zusammenfasse:
These 4:
Die Namensänderung „Schule für Kranke“ statt „Krankenhausschule“ impliziert einen Paradigmenwechsel. Der Auftrag der Krankenpädagogik ist losgelöst vom Ort der medizinischen Behandlung. Schulrechtlich blieb er mit Erlassvorgaben von Mindestliegezeiten allerdings daran gekoppelt.
In der Praxis ergeben sich daraus immer wieder Konflikte der Zugangsberechtigung und Umsetzung, weil sich unser Auftrag aus den krankheitsbedingten Lern- und Lebensschwierigkeiten unserer Schüler ergeben. Deren Dauer lässt sich nicht in Liegezeiten quantifizieren.
Krankenpädagogen im Spannungsfeld multiprofessioneller Teams Die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen erfordert permanente Reflexionen über Abgrenzung und Schnittmengen. Unser Arbeit auf der Beziehungsebene, die sich allein schon aus dem Erziehungsauftrag von Schule ergibt, lässt Kolleginnen und Kollegen aus den psychologischen Fachbereichen manchmal fragen, ob wir nicht „in fremden Revieren wildern“.
Dazu meine These 5:
Die Berücksichtigung der Beziehungsebene ist originärer Bestandteil des Unterrichtens in der Klinik. Sie ist kein Monopol der psychologischen Professionen. Sie sollte allerdings auch kein Monopol der Krankenpädagogik sein.
Ich will dem gleich noch eine weiter gehende Aussage hinzufügen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass unser Berufsstand in meiner Wahrnehmung eine hohe Affinität zu psychotherapeutischen Ergänzungsqualifikationen aufweist. In der flankierenden Beratungs- und Elternarbeit – auch die gehört zum staatlichen Auftrag - sind diese sehr hilfreich. Psychologische oder psychotherapeutische Zusatzkenntnisse der Krankenpädagogen sind umso effizienter, je deutlicher wir Lehrkräfte als Didaktiker erkennbar bleiben.
These 6:
Es ist hilfreich, wenn Kliniklehrkräfte therapeutisch sehen und verstehen können. Handeln werden sie jedoch ausschließlich als Schulpädagogen. Ihr Instrument bleibt die Didaktik auf der Basis von Empathie.
Der Auftrag des Klinikunterrichts liegt unter anderem darin, dem kranken Schüler die Wahrung seines Leistungsniveaus zu ermöglichen. Zu den förderpädagogischen Besonderheiten der Krankenpädagogik zählt indes auch die individualisierte curriculare Auswahl unter Berücksichtigung des spezifischen Krankheitsbildes. Themenstellungen mit Option auf identifikatorische Besetzung können einem körperlich leidendem Kind Trost und Durchstehvermögen vermitteln. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie kann die Affektsteuerung verhaltensabweichender Kinder und Jugendliche didaktisch erheblich beeinflusst werden. Ich kann dies heute Morgen hier nur andeuten. Unterrichtsinhalte fördern die Mentalisierungsprozesse von Schülern. Auch in extrem belasteten Lebensphasen bieten Unterrichtsinhalte Chancen der Identifizierung oder projektiven Entlastung. Affekte können über Sprache kultur- und sozialverträgliche Ausdrucksformen finden. Wer, um noch einmal die morgendliche Trommelkunst der Jugendgruppe aufzugreifen, einen negativen Affekt „wegtrommelt“, schlägt Trommeln, keine Mitmenschen. Geschmacklich können wir in den Generationen da durchaus weit auseinander sein. Punkmusik muss einem fünfzigjährigem Lehrer nicht gefallen. Doch Schüler, die sich in Punkmusik entäußern, erbringen eine Kulturleistung, deren Stilmittel im Unterricht erworben werden können.
These 7:
Die curriculare Auswahl unterstützt Affektsteuerung und Mentalisierungsprozesse. Unterrichtsinhalte beinhalten auch in extremen Lebensphasen Chancen der Identifizierung und projektiven Entlastung. Sie transformieren in Sprache, was einst nur Affekt war.
Am Eingangstag der Tagung zitierte Herr Hans Jörg Polzer Friedrich Otto Bollnows Formulierung vom „tragenden Grund“, den Jugendliche zum Strukturaufbau brauchen. Ähnliches meint der heute favorisierte Begriff „Containment“. Belasteten Schülern bietet der Besuch der Klinikschule einen haltenden Rahmen. Unsere Personkonstanz, die Inhalte unseres Schullebens, die Verlässlichkeit unserer Stundenplangestaltung erfüllen Aspekte des Containments.
These 8:
Schülern mit instabiler Persönlichkeit bietet der Besuch der Klinikschule einen „haltenden Rahmen“, eine Chance zum “Strukturaufbau“. Aspekte des „Containment“ beeinflussen Stundenplangestaltung und Lerngruppenzuweisung. Voraussetzung dafür, dass Schule einen „haltenden Rahmen“ bieten kann, ist deren personelle und bauliche Infrastruktur. Schule muss als Schule wahrnehmbar sein, nicht als ein Räumchen irgendwo. Selbstverständlich brauchen wir in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik Sporthallen, wir brauchen Gelegenheiten für Theater und Musik, Kunst, Werken und Hauswirtschaft. All das gehört zum Unterricht in der Klinikschule. Ein Oberarzt, der nicht Chefarzt einer Kinderklinik ohne Schule werden wollte, sprach mal von einem Schildbürgerstreich, als habe man „eine Chirurgie ohne Anästhesie“ gebaut.
Außerstationäre Begleitung durch die SfK Für manche jugendliche Patienten, insbesondere jenen der psychiatrischen Kliniken, ist auch während ihrer Stationszeit durchaus der Besuch ihrer Heimatschule indiziert. Es gibt jedenfalls keinen Automatismus, dass Klinikpatienten ausschließlich die Klinikschule besuchen müssen, wenngleich dies in Großstädten verkehrstechnisch eher möglich ist als in Flächenregionen. Umgekehrt ist es nicht mehr zeitgemäß und in keiner Weise mit modernen, flexiblen Behandlungsstrukturen zu vereinbaren, die Zugangsberechtigung der Schule für Kranke ausschließlich auf den Stationsaufenthalt zu beschränken, wie das die Erlasse in den Ländern überwiegend noch vorsehen. Der Wechsel von der Station in die ambulante Behandlung ist nicht immer identisch mit der vollen Belastbarkeit im Regelschulsystem.
In Nordrhein-Westfalen haben von den 40 Klinikschulen 17, die in der Psychiatrie groß aufgestellt sind, in den Jahren 2007 und 2008 eine Statistik erhoben, wonach rund ein Drittel aller Schüler nach einem Klinikaufenthalt die Schule wechselte. Ein Trend, der sich bei Folgeerhebungen in NRW-Großstädten auf 40% der Schülerschaft erweiterte. Die neuen Förderorte sind aber längst nicht immer am Tag der Entlassung verfügbar. Eine Rückkehr in die Herkunftsschule ist oft contraindiziert. Dort droht mit der sozialen oder intellektuellen Überforderung ein Rezidiv.
These 9:
Behandlungsstrukturen erzwingen zunehmend eine Begleitung von Schülern durch die SfK über die stationäre Behandlungszeit hinaus.
Nachgehende Betreuung durch die SfK im Sinne „weicher Übergänge“ wird in den Ländern vermehrt mit Ausnahmeregelungen geduldet. Derzeit gilt das schulpolitische Bemühen der Möglichkeit einer vor-stationären Unterrichtsaufnahme in der SfK. Die langen Wartezeiten gerade in psychiatrischen Kliniken sind bekannt. Wie hilfreich wäre es, wenn die Wartezeit in der zukünftigen Klinikschule überbrückt werden könnte. Und wie unsinnig ist es, wenn die Schulaufsicht statt dessen Hausunterricht verordnet. So sinnvoll dieser beispielsweise in der Onkologie ist, so sehr verschleiert er bei einem Schulphobiker die Probleme. Mitunter zementiert er die gar die Symptome.
Zum erweiterten Aufgabenfeld der SfK zählen auch präventive Beratungsdienste.
These 10:
Medizinische und psychologische Fachdienste, andere Schulen sowie Schulaufsichten beanspruchen zunehmend Beratungs-, Diagnose- und Unterrichtshilfen der SfK im Sinne eines Kompetenzzentrums für krankheitsbedingte Lernstörungen. Dies betrifft auch Informationen über Nachteilsausgleiche.
Der Konfliktlage, in die wir Krankenpädagogen angesicht solcher Aufgabenerweiterung mit geltendem Schulrecht geraten können, möchte ich meine vorletzte These widmen.
These 11:
Beamte haben Erlasse einzuhalten, Pädagogen haben die Lebenswirklichkeit zu berücksichtigen. Verbeamtete Pädagogen treffen bei Diskrepanz eine Güterabwägung und formulieren daraus schulpolitische Konsequenzen. Manchmal bedarf es auch des zivilen Ungehorsams, wenn Erlasse die Lebenswirklichkeit gar nicht mehr widerspiegeln.
Ein Letztes. Unsere Arbeit verlangt im Miteinander der Berufsgruppen und im Engagement für die jungen Patienten und ihr Umfeld eine Haltung, die ich eine Kultur der Offenheit nennen möchte. Dazu gehört die Akzeptanz der anderen Fachdisziplinen wie die Bereitschaft, Eltern und ihre Kinder als Experten in ihrer eigenen Sache zu vertrauen. Natürlich brauchen wir Lehrkräfte fundiertes Fachwissen und begleitende Fortbildung. Doch Wissenschaft ist nur ein Standbein, um die Aufgabe gut zu meistern und um die Situation unserer Kinder anzunehmen, manchmal auch auszuhalten. Das zweite Standbein möchte ich in meiner letzten These nennen.
These 12:
Wissenschaft hilft uns, kranke Kinder und Jugendlichen zu unterrichten. Humor hilft uns, ihre und unsere Situation anzunehmen und auszuhalten.
Auch in diesem Sinne waren die gleichermaßen fachfundierten wie heiteren Tage in München ein Trommelfeuer.
Vielen Dank!